Das
Herz nähren
Einer
der Betbrüder im Tempel war besonders bekannt für
seinen Eifer und sein Bemühen. Tag und Nacht saß
er in der Meditation, ohne zu essen oder zu schlafen. Mit der
Zeit wurde er dünner und schwächer. Der Meister des
Tempels riet ihm, sich etwas zu drosseln und mehr um sich selbst
zu kümmern. Doch der fromme Mann hörte nicht auf den
Rat. "Warum hast du es so eilig, wohin drängt es dich
so?" fragte der Meister. "Ich bin auf Erleuchtung
aus", antwortete der Bruder, "und will keine Zeit
vergeuden."
"Und woher weißt du", fragte der Meister, "dass
die Erleuchtung vor dir herläuft, dass du ihr hinterherlaufen
musst? Vielleicht ist sie hinter dir, und alles, was du zu tun
hast, um ihr zu begegnen, ist, bloß stillzustehen - du
aber läufst vor ihr weg!"
Wie es dem Mönch mit der Erleuchtung geht so mag es vielen
auch mit dem Wohlergehen, mit der Gesundheit, mit dem Zufriedensein
gehen. Beständig sind wir hinter ihr her, eilen ihr nach.
Aber wie kann sich eine Blume, ein Baum und auch ein Mensch
entfalten, wenn er beständig läuft? Saint-Exupery
schrieb in seinem Buch Der kleine Prinz in dem Dialog zwischen
dem Fuchs und dem Prinzen: "Man sieht nur mit dem Herzen
gut!" In meinem Buch "Die Frage, der Wald und der
Weg" heißt es u.a. : Stille ist das Licht des Herzens.
Damit das Herz sehen kann braucht es Licht und dieses Licht
ist die Stille, das Innehalten. Hier auch die Parallele zur
TCM: "Das Herz speichert das shen (den Geist)" heißt
es in den Klassikern. Nähren wir das Herz, so vermag unser
Geist klar zu sehen, so wie man an einem Gewässer bei Windstille
den Grund zu sehen vermag.
"Entfaltet sich die Blume?" würde ich als Zen-Lehrer
in Form eines Koans fragen. Nein, sie macht NICHTS, sie IST
eine Blume - oder krass ausgedrückt, sie unternimmt auch
nichts dagegen - und das simple Ergebnis IST die Entfaltung.
In einem daoistischen Lehrtext, dem san-tung-qi (Die dreifache
Einheit) steht: "Himmel und Erde sind zeitlos, weil sie
fortwährend vom Atem des Dao, der Quelle des Lebens, erneuert
werden. Wenn Menschen den Atem des Dao kultivieren und ihn im
Körper zirkulieren lassen, vermögen sie unsterblich
zu werden und mit Himmel und Erde eins zu sein."
Das Schlüsselwort des zweiten Satzes ist für mich
das LASSEN.
So bedeutet "das Herz nähren" nicht unbedingt,
dem nachzueilen, was wir begehren. Es kann vielmehr zunächst
bedeuten, innezuhalten und dem Herzen zu lauschen. Immer wieder
mache ich selbst auch die Erfahrung, dass mein augenblickliches
Begehren verschieden ist von dem, was mein Herz braucht.
Auch das Qi, die Lebenskraft, vermag sich erst dann zu entfalten,
wenn wir ihm auch die Gelegenheit dazu bieten - es lassen! Oftmals
aber sind wir eher mit dem Gegenteil beschäftigt, "weil
anderes gerade wichtiger ist!"
So eilen wir weiter den Fahnen hinterher, die wir uns - wie
der Esel und die Möhre - vor die Nase hängen. Dabei
könnte es vielleicht sein dass wir in dem Augenblick etwas
Wesentliches und Kraftvolles agieren lassen, wenn wir innehalten.
Manche bekommen annähernd Panik bei dem Gedanken daran,
innezuhalten. Verbunden damit ist der Gedanke, dann gar nicht
mehr zu "funktionieren". Dahinter steckt oft die Angst,
zuwenig Anerkennung, Liebe von anderen und nicht zuletzt auch
von sich selbst zu bekommen. Doch schauen wir uns diesen Aspekt
einmal genauer an: Gibt es einen liebenswürdigeren und
wertvolleren Menschen, als denjenigen, der innehält, wirklich
ganz und gar da ist, hier ist?